Lieber Leser,
Gestatten Sie mir zu Beginn einige Worte an Sie. Sie halten vielleicht schon mein sechstes Buch in Ihren Händen. Dieses Buch enthält Zeitgeschichte gepaart mit menschlichen Schicksalen aus der Zeit des Wiederaufbaus von Deutschland, nach dem letzten Weltkrieg. Es soll auch klar machen, wie viel Fleiß, Disziplin und Ausdauer nötig waren, um Deutschland nach dem verheerenden Krieg wieder aufzubauen. Die Nachkriegsgeneration, wie man heute so schön pauschal sagt, hat da Unglaubliches geleistet. Die "Trümmerfrauen" hatten einen nicht zu unterschätzenden Anteil an dieser Aufbauarbeit. Männer, die teilweise noch traumatisiert aus dem Krieg oder der Gefangenschaft heimkamen, hatten keine Zeit, sich zu pflegen, oder psychologische Betreuung zu suchen. Sie mussten, wenn sie das Land wieder bewohnbar machen wollten, anpacken und aus der Asche wieder Neues erschaffen. Es fehlte anfangs an so Vielem. Es gab nicht genügend Lebensmittel und die Hilfsleistungen der alliierten Siegermächte waren bitter nötig, aber eben auch nur ein Tropfen auf den "heißen Stein". Aber der Wille der Menschen war ungebrochen und so sprach man bald vom "deutschen Wirtschaftswunder". In dieser Zeit beginnt mein Roman, der Sie durch die letzte Hälfte des 20. Jahrhunderts führt, mit all seinen positiven und negativen menschlichen Schicksalen.
Es zeigt sich aber auch, wie Unzufriedenheit und der Hang zu alten Seilschaften immer wieder auch Menschen hervorbringt, die unseren Frieden heute durch Terrorismus, Habgier und Korruption zunichtemachen wollen. Unsere Seele droht abzustumpfen, mit dem Blick auf das Elend, das um uns herum herrscht. Technik und Forschung bringen immer wieder Neues hervor und wir stehen in Gefahr, da nicht mithalten zu können. Der Mensch mit seinen Gefühlen macht sich selbst überflüssig, denn Maschinen haben keine Gefühle. Nicht alle Forschungsergebnisse sind also ein Segen für die Menschheit. Lediglich auf dem Gebiet der Medizin sind wir auf einem guten Weg, aber auch hier müssen wir überlegen, ob alles Machbare auch wünschenswert ist. Wollen wir Menschen wirklich auf dieser Welt, wie sie sich uns heute zeigt, ewig leben und den Tod als Übergang in eine andere, vielleicht bessere Welt ausschalten?
Auch dieses Buch will, wie meine vorherigen Bücher, unterhalten, aber auch zum Denken über uns Selbst einladen. Dieser Roman soll Realitäten zeigen, aber er vermittelt auch Phantasien und Wunschträume. Er ist so nah am wahren Leben, aber auch ein großes Stück davon entfernt. Der Übergang zwischen Dichtung und Wahrheit wird also fließend sein, um Sie als geneigten Leser nicht zu desillusionieren. Viel Freude bei der Lektüre.
Ihre
Evelyne Bechmann
LESEPROBE
Erster Teil: Die Großelterngeneration
1
Gerade ist er vorbei, der 2. Weltkrieg, aber ans Aufatmen ist noch nicht so recht zu denken. Doch es gibt bereits Menschen, die nach vorne schauen und ihr Leben wieder neu in die Hand nehmen. Aber es gibt auch die, die traumatisiert herumlaufen, was zu diesen Zeiten nicht beachtet wird, denn zum Therapeuten zu gehen, dazu ist jetzt keine Zeit, abgesehen davon, dass es kaum welche gibt. Deutschland muss wieder aufgebaut werden. Auch im Jahr 1949 liegt noch sehr viel in Schutt und Asche. Manche Kriegsheimkehrer waren lange in Gefangenschaft und viele wissen nicht, wohin sie sollen. Sie kennen die Adressen nicht, unter der sich ihre Familien finden lassen, manche Familien hat der Krieg ganz ausgelöscht. Dann stehen sie da, an der Stelle, an der einmal das Zuhause war und jetzt nicht mehr ist als ein riesiger Bombenkrater, wenn man überhaupt noch die richtige Stelle finden kann.
München ist so eine Stadt, die gerade in den letzten Kriegstagen, noch von den Alliierten beschossen wurde und so kommen zwei noch junge Männer in ihre Heimatstadt zurück und finden sich erst einmal nicht mehr zurecht.
Beide, Franz Vielhuber und Max Freitaler hatten sich zufällig im Krieg kennengelernt und festgestellt, dass sie aus derselben Stadt kamen, aus München. Vor dem Krieg hatten sich die beiden nicht gekannt. Vielhuber war aus Schwabing und Freitalers Eltern hatten vor dem Krieg in Giesing eine gut gehende Schreinerei betrieben, die Freitalers Schwester Maria mit einem alten Gesellen versuchte, mehr schlecht als recht aufrecht zu erhalten, da Vater und Bruder in den Krieg mussten. Der Vater war schon in den ersten Kriegstagen gefallen. Die Mutter hatte sich so darüber aufgeregt, dass sie einen Herzinfarkt erlitt und starb. Aber das Haus und die Schreinerei der Freitalers waren weitgehend unversehrt geblieben. Ein paar kaputte Fensterscheiben in der Schreinerei, von den Druckwellen der Bomben und ein paar Risse im Mauerwerk hatte der Krieg schon hinterlassen, aber was war das schon, gegen all die anderen Verwüstungen in der Stadt. Maria Freitaler hatte ihre Schulfreundin Brigitte Steinmeier mit in ihrem Haus aufgenommen. Ihre ganze Familie war beim Einsturz ihres Hauses getötet worden. Nur Brigitte hatte überlebt, da sie gerade bei Maria zu Besuch gewesen war. Ja und über Franz Vielhubers Familie wusste auch niemand etwas, da Schwabing der mit am schlimmsten bombardierte Stadtteil Münchens war. So nahm Max Freitaler seinen Freund Franz mit zu sich auf Giesings Höhen. Und hier nun beginnt unsere Geschichte, über zwei junge Familien im Nachkriegsdeutschland, wie sie wirklich hätte passiert sein können.
Maria Freitaler weiß sich vor lauter Freude kaum zu fassen, als sie ihren Bruder wieder in die Arme schließen kann. Seit seiner Kriegsgefangenschaft im fernen Russland hatte sie kein Lebenszeichen von ihm mehr bekommen. Der alte Geselle Korbinian Münzer weint vor Freude, als er den Juniorchef wiedersieht. Max Freitaler hatte vor dem Krieg gerade noch so seine Lehre beenden können, an die Meisterschule war nicht mehr zu denken, denn da kam schon die Einberufung. Korbinian Münzer hatte den Betrieb, erst recht nach dem Tod des alten Freitaler, gewissenhaft weitergeführt, in der Hoffnung, dass wenigstens Max den Krieg überleben und die Schreinerei weiterführen würde. Aber während des Krieges gab es ja keine großen Aufträge, nur immer kleinere Reparaturen, wenn etwas abgebrochen war. An den Bau von Tischen und Schränken war nicht zu denken und so konnte sich die Schreinerei Freitaler, nur mit Not über Wasser halten. Andere Betriebe hatten schon ganz schließen müssen, ihnen fehlte es nicht nur an Aufträgen, sondern auch an der Belegschaft, die meist komplett eingezogen wurde. Und so war Korbinian Münzer ein Glücksfall für die Freitalers, da er bei Kriegsbeginn bereits weit über sechzig Jahre alt war und so nicht mehr an die Front musste.
In dieses dürftige Zuhause kam nun Max Freitaler zurück und brachte in Franz Vielhuber noch einen Esser mehr mit. Nun mussten im freitalerischen Schreinereihaushalt fünf Menschen untergebracht und ernährt werden und das war in diesen schwierigen Zeiten nicht einfach. Brigitte Steinmeier zog in das Zimmer von Maria um und Max und Franz zogen in das freigewordene Zimmer. Korbinian Münzer hatte sich im ehemaligen Lager der Schreinerei eingerichtet, nachdem sein Wohnhaus schon in den ersten Kriegstagen so bombardiert wurde, dass es unbewohnbar war. Verbotenerweise hatte er noch ein paar Habseligkeiten aus seiner Wohnung retten können. Aber er war nur einmal dort gewesen, denn überall hatte es geknackt und geknistert und er musste fürchten, dass das Haus über ihm zusammenbrach. Zwei Tage später stürzte es dann auch in sich zusammen. Aber auch das Wohnhaus der Freitalers war stark renovierungsbedürftig. Durch die dauernden Bombardierungen hatte es starke Risse bekommen und nur die beiden Zimmer, die die beiden Männer und die zwei Frauen im ersten Stock bewohnten, waren unbeschadet geblieben und im Erdgeschoss waren die Küche und die Toilette noch brauchbar.
Die findige Maria hatte eine kleine Scheune als Stall umfunktioniert, in der sie heimatlose Hühner aufbewahrte. So waren immer Eier vorhanden und ab und zu gab es Hühnersuppe und zu Festtagen ein Hähnchen. Anderes war Sache der Organisation. Einige Kunden zahlten in Naturalien, wenn sie auf dem Land Verwandtschaft hatten, die sie hin und wieder mit Schweinefleisch und Mehl versorgten. Die Ausgangsposition war also denkbar schlecht, aber nicht aussichtslos. Maria hatte fast Tag und Nacht gearbeitet, um Korbinian, Brigitte und sich selbst durchzubringen. Als Brigitte im freitalerschen Haus ankam, war sie ein verstörtes junges Mädchen, das alles, was es einmal besessen hatte, verloren geben musste. Nur was sie auf dem Leib trug, war ihr geblieben und ihre Freundin Maria. Und das war mehr als manch anderer hatte, nämlich wieder ein Dach über dem Kopf und wenigstens so viel zu essen, dass sie überleben konnte. Zuerst war Brigitte für nichts zu gebrauchen, da sie oft und viel weinte und kaum ansprechbar war. Aber Marias Fürsorge tat ihr gut und so ging sie ihr wenigstens im Haushalt bald zur Hand und Maria konnte sich mehr und mehr auf die wachsende Auftragslage in der Schreinerei einstellen, denn es gab viel zu reparieren nach dem Krieg, aber neue Möbel wurden nicht bestellt. Brigitte hielt so den Haushalt in Schuss und Maria die Schreinerei, natürlich mit der versierten Hilfe von Korbinian. So konnten sie sich abends ein wenig von der Arbeit ausruhen und von den Wollresten, die Marias Mutter hinterlassen hatte, warme Socken für den Winter stricken. Ab und zu kam auch Korbinian dazu und rauchte seine Pfeife.
An so einem Abend standen Max und Franz plötzlich vor der Tür. Die Wiedersehensfreude war so groß, dass Maria sofort in den Keller stürmte und die vorletzte Flasche Wein heraufholte, die ihnen geblieben war. Es war wie selbstverständlich, dass Franz mitgekommen war, denn sie waren zunächst in Schwabing gewesen und hatten Franz Vielhubers Eltern und ihr Wohnhaus gesucht. Sie hatten nur Mauerreste gefunden und da, wo der schön angelegte Garten der Mutter gewesen war, gähnte ein riesiger Bombenkrater. Da war sehr schnell klar geworden, dass Franz hier nicht bleiben konnte und nach seinen Eltern würde man über die Behörden suchen müssen und das konnte zum jetzigen Zeitpunkt dauern. So war Franz dankbar, dass Max ihn mit zu sich nahm, auch wenn zuerst ja auch nicht sicher war, ob sein Elternhaus und die Schreinerei noch standen. Umso glücklicher waren sie gewesen, als sie unten im Tal standen und hinauf auf Giesings Höhen blickten und Max das Anwesen seiner Eltern nahezu unbeschädigt entdeckte. Aber war es überhaupt noch sein Elternhaus? Er wusste, dass beide Eltern tot waren und nur seine Schwester Maria und der gute, alte Korbinian noch lebten. Würden sie noch in dem Haus wohnen, oder hatten sie es verkaufen müssen, oder hatte man es ihnen einfach genommen? Diese düsteren Gedanken peinigten Max beim Weg bergauf. Er musste Gewissheit haben und das so schnell als nur irgend möglich. Und so eilte er den Berg hinan, dass Franz kaum Schritt halten konnte. Es war eine Erlösung, als Maria endlich in der Tür stand und beide herzlich umarmte und hereinbat. In dieser Nacht machte im Haus der Familie Freitaler keiner ein Auge zu. Es gab einfach zu viel zu berichten, was inzwischen alles geschehen war und es waren nicht gerade schöne Erlebnisse, die man sich erzählte, aber es war wichtig und richtig, sich alles mal von der Seele zu reden. Max war ein Heißsporn und hatte sein Leben Franz nicht nur einmal zu verdanken. Oft hatte er ihn im letzten Moment in den Schützengraben gezogen. Und in russischer Gefangenschaft hatte er oft aufzubegehren versucht. Diejenigen, die eine Meuterei anzettelten, waren kurze Zeit später wie vom Erdboden verschluckt. Franz sagte immer, wenn er die Trotzgefühle in Max aufsteigen sah: “Denk daran, wir wollen wieder nach Hause kommen und nicht hier irgendwo verscharrt werden.” Dann dachte Max tatsächlich an seine Schwester und die Werkstatt und beruhigte sich wieder. Als sie dann endlich frei kamen, fühlten sie sich wie neu geboren, auch wenn der Weg nach Hause noch sehr weit war. Bis sie sich bis München durchgeschlagen hatten, natürlich schon auch mit staatlicher Hilfe, vergingen doch noch zwei Wochen, die unendlich schienen, so groß war die Sehnsucht nach der Heimatstadt und auf die, die auf sie warteten. Dann war Franz zum ersten Mal derjenige, der Hilfe von Max benötigte. All sein Harren und Aushalten in der Fremde war nun umsonst. Sein Zuhause stand nicht mehr und wo die Eltern waren, wusste niemand. Umso dankbarer war Franz, dass er so liebevoll aufgenommen wurde. Aber was würde werden? Max hatte seine Schreinerwerkstatt, die er weiterbetreiben konnte, aber was hatte er? Er war einer der Letzten, der noch sein Abitur abschließen konnte, aber Berufsausbildung hatte er keine. Sein Vater hatte sich gewünscht, dass er einmal Anwalt werden und seine Kanzlei übernehmen sollte. Er aber sah sich eher als Künstler, er konnte ganz passabel Klavier spielen und auch das Zeichnen lag ihm. Aber erstens wusste er nicht, ob die Kanzlei seines Vaters, die er mit einem Kompagnon betrieb, noch existierte und was es überhaupt für Ausbildungsmöglichkeiten für ihn gab. Und da war es wieder Max, der ihn schon am zweiten Tag nach ihrer Ankunft in München aus seinen düsteren Gedanken herausholte, als er zu ihm sagte: “Franz, ich habe eine Idee. Du kannst doch sehr gut malen. Wir können hier in unserem Betrieb nicht immer nur reparieren, das bringt nicht genug Geld zum Überleben ein. Ich möchte eine eigene Möbelserie herausbringen. Nichts Teures, aber zweckmäßig und schön sollten die Möbel schon sein. Wie wäre es, wenn Du die Entwürfe dazu machtest? Wir könnten dann Partner werden. Wenn Du willst, kannst Du auch in der Abendschule die Ausbildung zum technischen Zeichner machen. Uns wäre beiden geholfen.” Da hatte Franz fast die Tränen in den Augen und sagte: “Du willst mich tatsächlich hier behalten? Das Geld reicht ja für Euch kaum und dann auch noch ich, ein Esser mehr!” “Mach Dir darüber keine Sorgen, wenn alles so funktioniert, wie ich mir das vorstelle, kannst Du in kurzer Zeit sogar mein Teilhaber sein. Also, wenn Du Lust dazu hast, technischer Zeichner zu werden und unsere Möbel zu entwerfen, gehe ich schon morgen zur Bank und kümmere mich um die Finanzierung. Jetzt ist die Zeit des Aufschwungs und wenn wir nichts unternehmen, dann bleiben wir auf der Strecke. Also los, Kumpel, gib Deinem Herzen eine Stoß und sag Ja.” “Was soll ich noch sagen, Du hast mich überzeugt. Hast Du Papier und Bleistifte? Ich habe bereits Ideen.” So wurde der Grundstein für eine florierende Firma gelegt.